Himmelsstürmer auf dem Skywalk

Tag 3 beginnt mit Regen – na ja, es darf im Urlaub ja auch ein bisschen regnen – und wir sitzen im Frühstücksraum gut geschützt hinter Glas. Meine Vermutung ist, dass es hier oben in den Bergen auch einmal kühl werden kann und deshalb ein an den Seiten offener Gastraum vielleicht nicht so angenehm sein könnte. Tatsächlich herrscht hier nicht gerade brütende Hitze. Aber ein weiterer Grund für den geschlossenen Raum könnte sein, dass mensch sein Frühstück besser vor einer Affenbande schützen kann, die sich allmorgendlich heranpirscht. Aus dem nahen Wald kommen sie über die Bäume und die Hängebrücke und machen ihre Turnübungen direkt vor dem Fenster, vermutlich in der Hoffnung, dafür mit Brosamen vom Frühstücksbuffet belohnt zu werden. Diese Rechnung geht nicht auf, denn die Leute, die die Brosamen hätten verteilen können, vertilgen sie entweder selbst oder packen die Kamera aus, um den tierischen Besuch abzulichten.

Heute steht ein Punkt auf der Tagesordnung, der mich stark zur Reise nach Costa Rica motiviert hat, der Besuch des „Skywalk“, einer Reihe von Hängebrücken, die sich im Primärwald über tiefe Schluchten spannen und beeindruckende Blicke von oben auf das dichte Blätterdach ermöglichen. Während man zu Hause bezweifelt hat, dass genug Touristen kämen, und den von mir vorgeschlagenen Baumwipfelpfad abgeschmettert hat, wird hier seit Jahr und Tag bewiesen, dass das ein äußerst attraktives Angebot ist. Und der Skywalk in Monteverde ist beileibe nicht das einzige Angebot dieser Art im Land. Und obwohl heute gewiss nicht die allerbesten Witterungsbedingungen sind, wollen auch andere durch den „Himmel wandern“.

Im Touristenzentrum herrscht Betrieb, was wohl vor allem daran liegt, dass alle unter einem trockenen Dach abwarten wollen, bis das Wetter sich bessert und uns nach draußen lockt. Das Wetter ist aber in Costa Rica genauso eigensinnig wie in Deutschland und macht, was es will. Und so gehen wir genau in dem Moment los, als es noch stärker zu regnen beginnt. Der Pfad bietet schon nach fünfzig Metern das erste Erlebnis, als wir zu den Kolibris abzweigen, die man mit Zuckerwasser hierher gelockt hat. Eifrig saugen die kleinen Sonderlinge unter den Vögeln und stören sich an uns nicht. Von einem Futtertrog zum nächsten schwirren sie uns so dicht an den Köpfen vorbei, dass man das Vibrieren der Flügel im Trommelfell spüren kann. Fast fünfzig mal schlagen die Flügel in der Sekunde und sind so beweglich, dass sie auch seitwärts oder rückwärts fliegen können. Oder auf der Stelle stehen bleiben, ohne die Füße zu benutzen. Ihr Herz schlägt über 400 mal in der Minute, womit schon verständlich wird, warum diese Tiere nicht alt werden. Das Foto einer Purpurkehlnymphe, die wir beobachten können, ist auch bei Wikipedia unter dem Stichwort „Kolibris“ veröffentlicht. Purpurkehlnymphen haben allerdings einen Namen, der nach diesem Foto nicht erschlossen werden kann. Schillerndgrünrückennymphe schiene angebrachter. Wer weiß, was der Namensgeber seinerzeit getrunken hatte.

Wir gehen auf dem schmalen, aber größtenteils gut ausgebauten Pfad weiter und kommen recht bald zur ersten von acht Hängebrücken, die teilweise recht unvermittelt hinter den Bäumen erscheinen. Schätzungsweise zwischen 50 und 300 Metern sind sie lang und führen dank der steilen Berghänge immer nach wenigen Metern aus dem Wald hinaus über die Bäume. Es regnet und es ist diesig, aber der Blick reicht doch so weit, bis der nächste Hügel ohnehin die Sicht versperren würde. Wir bekommen eine Ahnung, warum Monteverde im „Nebelwald“ liegt, denn die Wolken – nichts anderes ist Nebel – legen sich einfach auf die Bäume drauf und die bedienen sich am Wasser, das sie mitführen. Die komplette Pflanzenwelt in Monteverde ist an diesem Prinzip ausgerichtet, denn es setzen sich die Pflanzen durch, die ihren Wasserhaushalt am besten aus der Luft regulieren können.

Und das scheinen sehr viele verschiedene Arten zu sein, denn es ist völlig unmöglich, das Auge irgendwohin zu richten, wo nur eine Pflanzenart zu sehen wäre. Besonders augenfällig sind in Monteverde die Epiphyten, also die Aufsitzerpflanzen, die sich einen Baum zum Wurzeln suchen, um näher zum Himmel und zum Licht zu kommen. Wer mehr über Epiphyten erfahren will, möge auch hier Wikipedia bemühen und staunen, dass gleich zwei Fotos aus Costa Rica die textlichen Ausführungen untermauern. Es ist augenscheinlich, dass unser Urlaubsland mustergültige Natur zu bieten hat.

Ach, hätte es weniger geregnet, das Erlebnis der Natur aus der Vogelperspektive wäre noch grandioser gewesen. Wer jetzt aber glaubt, wir wären schnellen Schrittes unter ein trockenes Dach geflüchtet, irrt sich. Die Hälfte der Gruppe dreht am Ende der achten Brücke um und geht den gleichen Weg noch einmal zurück. Verwunderlich und folgerichtig zugleich, dass wir noch einmal ganz neue Perspektiven und Details entdecken, die uns über die üppige nasse Welt um uns herum ins Staunen bringen. Die Reise hat noch kaum richtig begonnen und uns schon eindrucksvolle Bilder ins Gehirn und in den Fotoapparat gezaubert. Und mir die Erkenntnis gebracht, dass ich mich zu Recht für meine als regenresistent geltende Kamera entschieden habe. Sie macht klaglos alles mit, was ich ihr zumute. Na ja, bis zu diesem Zeitpunkt wenigstens.

Was wir wetterbedingt schweren Herzens aus dem Veranstaltungsprogramm streichen, ist eine Canopy-Tour durch den Wald von Monteverde. Aus Reiseführern wussten wir schon, dass es sich dabei um die Fortbewegung von Baum zu Baum mittels – nein, nicht Lianen – sondern Stahlseilen handelt. Und Frank liefert uns die Geschichte dazu. Demnach ist Canopy eine Erfindung der Urwaldforscher, die auf die Bäume müssen, um die Vielfalt des tropischen Regenwaldes untersuchen zu können. Dazu benutzten sie ursprünglich Seile, die über einen Ast gespannt waren. Und auf einen Baum rauf, wieder runter, auf den nächsten rauf usw. ist auf die Dauer doch recht anstrengend und zeitraubend. Und so erfanden sie die Fortbewegung in der Luft, die heute als touristisches Spektakel überall im Land angeboten wird. Das längste Stahlseil gibt es in Monteverde mit einer Länge von 1.000 Metern und es überspannt das gleiche Tal wie die längste Hängebrücke des Skywalk. Wir können sehr gut die Seilartisten beobachten, wie sie sich über den Nebelwald gleiten lassen und garantiert bis zur Unterlippe mit Adrenalin gefüllt sind angesichts der spektakulären Umgebung.

Tiere sind an diesem Tag nur wenige zu sehen, kein Wunder bei dem Wetter. Immerhin hat es zu zwei Affen, ein paar Vögeln und vielen, vielen Ameisen gereicht. Kapuzineraffen hatten wir aber an diesem Tag schon beim Hotel gesehen und nach unserer Rückkehr einige knallbunte Vögel, die allerdings die unschöne Eigenschaft besitzen, wieder verschwunden zu sein, wenn ich mit der Kamera zur Stelle bin. Da entdeckt man einmal selbst etwas und dann das.

Nach dem Abendessen tröstet uns Frank für die vielen nassen Kleider, die wir mit uns herumgetragen hatten: „Morgen fahren wir in die trockenste Region von Costa Rica. Da regnet es im Jahr nur 2.000 Millimeter“. Ein richtiger Trockenwald erscheint vor unserem geistigen Auge, ja, Wüste beinahe, die uns am nächsten Tag erwartet. Bis das geistige Auge vom Geist abgelöst wird, der in Erinnerung ruft, dass 2.000 mm immer noch zweieinhalbmal so viel ist wie in Deutschland.


Auf dem Dach des Regenwaldes

Erinnerungen

an Costa Rica

Bilder und Reisebericht

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