Auf dem Weg nach Monteverde
„Tragt euere Rucksäcke über den Köpfen, damit sie
nicht nass werden“, höre ich den Führer sagen, als gleich
neben mir einer in den Fluten des Gebirgsbaches verschwindet, den der Niederschlag
der letzten Tage zu einem reißenden Strom hat anschwellen lassen. Mit
einem beherzten Griff packe ich ihn am Arm und ziehe ihn wieder ans Tageslicht.
Seit Stunden stapfen wir durch den Regenwald, der eben nicht nur aus Wald,
sondern auch aus Regen besteht. Zum Glück herrschen milde Temperaturen,
die uns die Nässe der häufigen Flussdurchquerungen ertragen lassen.
So muss es Alexander von Humboldt ergangen sein, unserem großen Vorfahren,
der diese Strapazen nicht wie wir zum Urlaubsvergnügen, sondern im Dienste
der Wissenschaft erdulden musste. Und dabei unsterblich wurde – vielleicht
wie wir, wenn wir von unserer Expedition Entdeckungen mitbringen würden,
die vor uns noch kein Mensch gemacht hatte. Angeblich sind ja neunzig Prozent
der Arten im Regenwald noch gar nicht gefunden worden.
Die Sonne scheint mir genau ins Gesicht, als ich mich zum Fenster hindrehe.
Sie blendet, als ob sie mir sagen wollte: Steh auf und vertrödele nicht
den Tag. Der Wecker hat sich noch nicht zu Wort gemeldet und trotzdem bin
ich hellwach. Oh, du guter Jetlag. In Deutschland ist es jetzt bereits kurz
nach dem Mittagessen. Höchste Zeit also zum Aufstehen. Auf dem Rasen
hinter mir kümmert sich ein dienstbarer Geist bereits um die Pflege der
Pflanzen. Mir fällt auf, dass das Zimmerfenster keine Glasscheiben hat,
sondern stattdessen ein Fliegengitter. Das verhindert zwar, dass die lästigen
Insekten, die den Weg durch die Tür nicht gefunden haben, draußen
bleiben müssen, aber jedes Geräusch von draußen dringt ungebremst
ins Ohr. Was für ein absurder Traum war das gewesen, von Regen und reißenden
Gebirgsbächen. Wir sind schließlich weise genug, unseren Urlaub
hinter die im Oktober endende Regenzeit zu legen und die gleißende Sonne
dieses Morgens ist das wahre Omen für den weiteren Verlauf der Reise.
Wir haben am ersten ganzen Tag in Costa Rica eine weite Fahrt vor und so
ist für unchristliche sieben Uhr frühes Frühstück angesagt,
etwa so, als wenn ich anschließend ins Büro müsste. Zu diesem
Zeitpunkt ist mir noch nicht klar, dass das ab sofort jeden Tag so gehen würde.
Jetlag sei Dank ist das aber kein Problem, zumindest einstweilen nicht. Was
ich da noch nicht weiß: Die Abende sind in Costa Rica sehr kurz und
die Nacht zum Schlafen völlig ausreichend, wenn man eine ordentliche
Matratze findet. Und eine disziplinierte Reisegruppe feiert auch nicht regelmäßig
durch, um am anderen Morgen frisch und munter die Sonne begrüßen
zu können.
Vom Zentraltal aus geht es gegen acht Uhr auf die Panamericana in Richtung
Nordwesten. Die Straße erstreckt sich durch den kompletten amerikanischen
Kontinent von Alaska bis nach Feuerland und es hat schon etwas Besonderes,
sie erstmals mit eigenen Augen zu sehen. Dafür, dass es die einzige durchgehende
Straßenverbindung zwischen Panama im Süden und Nicaragua im Norden
ist und damit die Hauptverkehrsachse Costa Ricas, ist die Straße erstaunlich
schmal. Sie ist vergleichbar mit einer Bundesstraße in Deutschland,
allerdings erheblich weniger befahren. Was schon bald auffällt, sind
die großen amerikanischen Trucks, die den Gütertransport übernehmen,
denn Eisenbahnen gibt es in Costa Rica nicht. In Deutschland gibt es zwar
viele Eisenbahnen, aber Güter werden trotzdem auf den Straßen transportiert.
So unterschiedlich ähneln sich die Sitten.
Anders als auf Deutschlands Straßen sind viele Menschen unterwegs,
auch außerhalb der Ortschaften. Bürgersteige sind nirgends zu sehen,
so dass die Autos sehr knapp an den Passanten vorbei fahren. Auch einige Radfahrer
sind zu beobachten, die aber an diesen Straßen sicher auch nicht den
allergrößten Spaß haben. Notiz für künftige Urlaube:
Rad fahren geht woanders besser. Ich frage mich, wie oft in dieser Situation
Unfälle passieren, habe aber auch das Gefühl, dass beide Parteien
voneinander wissen und gegenseitig Rücksicht nehmen. Die rabiate Fahrweise
vieler deutscher Autofahrer ist mir jedenfalls nirgends aufgefallen.
Auf den ersten Kilometern gibt es viele Betriebe, die in irgendeiner Weise
mit Autos zu tun haben. Garagen und Werkstätten, Autovermietungen, Reifenhandlungen,
Stellplätze in Hülle und Fülle. Gewerbegebiete sind in Costa
Rica genauso unattraktiv wie zu Hause. Gut, dass wir bald das Zentraltal,
wo die meisten Menschen und mit ihnen in symbiotischer Verbindung Autos leben,
verlassen.
An einer Straßenkreuzung in den Bergen steht ein Polizeiauto, Beamte haben eine Straßensperre errichtet. Eine Razzia? Kokaindealer auf dem Weg in die USA, wo sie satte Gewinne mit ihrer Ware erzielen? Oder Terroristen, die gerade einen Anschlag begangen haben? Man weiß das ja aus den Nachrichten, wie es in Lateinamerika zugeht. Aber nein, beruhigt uns Frank. In Costa Rica gibt es zwei Sorten von Polizisten. Die einen sind für den Verkehr zuständig, die anderen für böse Jungs. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht verstanden, woran man die eine und die andere Sorte erkennt. Die hier sind jedenfalls Verkehrspolizisten, die unserem Busfahrer erklären, dass da vorne ein Erdrutsch die Straße unpassierbar gemacht habe. Vor etwa zwei Wochen hat es ein Unwetter gegeben mit so viel Regen wie in den letzten dreißig Jahren nicht. Die Spuren sind überall im Land zu sehen: Erdrutsche an steilen Hängen, umgefallene Bäume, gestiegene Flusspegel (war der Traum von letzter Nacht eine Prophezeiung?), unterspülte Straßen, Häuser und Brücken.
Frank nutzt die Fahrzeit, um unsere Aufmerksamkeit auf die Trinkgeldfrage
zu lenken. Da, wie wir bereits gelernt haben, Personal in der Gastronomie
seine zehn Prozent Aufschlag automatisch in die Preise einrechnet –
interessanterweise wird auf den Speisekarten manchmal der Nettopreis ausgewiesen,
öfter der Bruttopreis -, spricht er die helfenden Hände im Hintergrund
an, etwa die Zimmermädchen oder die Gärtner in der Hotelanlage.
Frank bietet an, von jedem Teilnehmer eine Pauschale von 50 Dollar zu erheben
und den Betrag gerecht zu verteilen. Die meisten nehmen dankbar an.
Buntes Treiben auf der Panamericana